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Denkpause 17 | 25.03.02

Wenn Enkel Politik machen

Osterweiterung ohne Benes

Nach der Wiederaufnahme von deutschen Angriffskriegen gegen ehemalige Nazi-Gegner und der Aufrüstung für bessere Kriege in aller Welt will die deutsche Bundesregierung sich jetzt der EU bedienen, um auch noch die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges zu korrigieren. Die Vertreibung der Sudetendeutschen durch die Tschechoslowakei könnte fünfundfünfzig Jahre später mit Nachteilen für die Tschechische Republik bei der EU-Osterweiterung bestraft werden. Dabei werden - wie so oft im rot-grünen Deutschland der letzten Jahre - bewusst die Rollen von Tätern und Opfern vertauscht.

»Vertreibung, daran kann es keinen Zweifel geben, ist stets ein Unrecht.« sagte Bundeskanzler Gerhard Schröder auf dem »Tag der Heimat« des Bundes der Vertriebenen im Jahr 2000.

Bundesaußenminister Fischer bekannte sich bereits mehrere Male zu seiner Verbundenheit mit seinen Eltern, die aus dem ungarischen Budakeszi vertrieben wurden.

Die sich in Quantität und in der Wortwahl verschärfenden Stellungnahmen für die Vertriebenen als vermeintliche Opfer verdecken immer professioneller, dass der Großteil der Sudetendeutschen eine bedeutende Stütze für die Nationalsozialisten war.

Im Oktober 1933 gründete der Turnlehrer Konrad Henlein die Sudetendeutsche Heimatfront, die später in Sudetendeutsche Partei (SdP) umbenannt wurde. Die Partei wurde von den NationalsozialistInnen aus Berlin finanziell unterstützt und agierte in enger Abstimmung mit ihnen. Bei den Gemeinderatswahlen 1938 diente sich die SdP als Statthalter der NS-Diktatur an und bekam mit diesem Programm 91 Prozent der sudetendeutschen Stimmen.

Im Münchener Abkommen von Ende September 1938 ließen die Schutzmächte Frankreich und Großbritannien mit ihrer seitdem berüchtigten Appeasement-Politik die Tschechoslowakei (CSR) fallen und verpflichteten das Land, die deutschsprachigen Gebiete Hitler zu überlassen. Der 1935 gewählte bürgerlich-liberale Präsident Edvard Benes trat aus Protest zurück.
Über Nacht begann die brutale Unterdrückung der tschechischen Minderheit durch die Sudetendeutschen. Tausende von TschechInnen mussten nach pogromartigen Ausschreitungen der Nazi-AnhängerInnen ins Landesinnere flüchten.

Der Staatssekretär des im März 1939 errichteten »Reichsprotektorats Böhmen und Mähren«, Karl Hermann Frank, proklamierte die deutschen Pläne: »Das Ziel der Reichspolitik in Böhmen und Mähren muss die restlose Germanisierung von Raum und Menschen sein.« Gemäß Himmlers »Generalplan Ost« von Ende des Jahres 1941 sei es »zu erwägen, in Betracht kommende geeignete Tschechen in den sibirischen Raum zu überführen«.

Die Sudetendeutschen haben während der deutschen Besatzungszeit in Wort und Tat bewiesen, dass sie weder mit TschechInnen zusammen, noch in einem tschechischen Staat leben möchten. Was lag also näher, als sie nach der Beendigung der nationalsozialistischen Besatzung in jenen Staat zu schicken, in dem sie schon immer leben wollten - und aus jenem Staatsverband heraus, den sie in ihrer großen Mehrheit immer bekämpft haben?

Präsident Benes ordnete genau dieses nach dem Kriegsende und seiner Rückkehr aus dem englischen Exil mit den heute nach ihm benannten Dekreten an, die noch in der Zeit der Exilregierung von 1940-1945 ausgearbeitet worden waren. 1946 billigte das tschechoslowakische Parlament die Dekrete nachträglich. Zehn der 143 Erlasse beziehen sich auf die Enteigung, Vertreibung und Entrechtung der deutschen und ungarischen Bevölkerungsgruppen, die für die Kollaboration mit Hitlerdeutschland büßen sollten. Für nachgewiesene AntifaschistInnen, die sich zum tschechischen Staat bekannten, gab es »Antifa-Bescheinigungen«, die sie mit etwas Glück bekamen und mit welchen sie einer Vertreibung entgehen konnten. In einem Amnestiegesetz wurden alle im Zeitraum vom 30. September 1938 bis zum 28. Oktober 1946 als »gerechte Vergeltung für die Taten der Okkupanten und ihrer Helfershelfer« begangenen Verbrechen für straffrei erklärt.

Die Vertreibung der Sudetendeutschen basierte jedoch nicht nur auf den Benes-Dekreten, sondern auch auf Entscheidungen, welche die Siegermächte auf der Potsdamer Konferenz getroffen hatten. Man darf also gespannt sein, ob Deutschland irgendwann diese politische Entscheidung für die Vertreibung als Hindernis für eine EU-Kooperation mit Frankreich und England ansehen wird.

Heute ist zunächst einmal die Tschechische Republik als EU-Beitrittskandidat Gegenstand deutscher, ungarischer und österreichischer Geschichtsfälschungsgelüste. Hilfreich ist dabei insbesondere das Europäische Parlament, das sich bereits öfter für die Sudetendeutschen eingesetzt hat: In einer »Entschließung zum regelmäßigen Bericht der Kommission über die Fortschritte der Tschechischen Republik auf dem Weg zum Beitritt« (KOM(98)0708-C4.0111/99) vom 15.04.1999 (A4 0157/1999) forderte die Mehrheit der Abgeordneten »die tschechische Regierung im Geiste gleichlautender versöhnlicher Erklärungen von Staatspräsident Havel auf, fortbestehende Gesetze und Dekrete aus den Jahren 1945 und 1946 aufzuheben, soweit sie sich auf die Vertreibung von einzelnen Volksgruppen in der ehemaligen Tschechoslowakei beziehen.« Auf sudetendeutschen Bundesversammlungen und in rechtsextremen Publikationen hat sich das Parlament damit Anerkennung erworben.

Ein besonders engagierter Kämpfer für die Vertriebenen ist der EU-Abgeordnete Bernd Posselt, der für die CSU in der Fraktion der Europäischen Volkspartei sitzt. Er ist seit Anfang diesen Jahres Vizepräsident des gemischten parlamentarischen Ausschusses EU-Tschechische Republik und bekleidet gleichzeitig das Amt des Bundesvorsitzenden der »Sudetendeutschen Landsmannschaft«. Dieser Verein will übrigens im Frühjahr 2002 ein Büro in Prag eröffnen. Dabei muss man sich darauf einstellen, dass die LobbyistInnen der 91-prozentigen NaziunterstützerInnen nichts mehr und nichts weniger als den Satzungszweck verwirklichen wollen: »Den Rechtsanspruch auf Heimat, deren Wiedergewinnung und das damit verbundene Selbstbestimmungsrecht durchzusetzen.« Posselts Aktivitäten werden abgerundet durch die Präsidentschaft in einem weiteren Verein: Der Paneuropa-Union. Zu deren Zielen zählt »ein starkes Europa, das überall in der Welt für seine Interessen und für die Ideale der Freiheit und Menschenrechte eintritt« sowie »als geistige Führungskraft Vorbild für die Völker in der Welt sein kann«.

Dass dieses Europa unter deutscher Führung stehen soll, geht zum Beispiel aus Posselts Buch »Sturmzeichen« von 1994 hervor: Er strebt für Europa eine »überregionale Rechtsordnung, die auf die Tradition des heiligen Römischen Reiches zurückgeht« an.

Wenn laut Grundsatzprogramm der Paneuropa-Union auf »ein souveränes Europa, das keiner fremden Macht untergeordnet ist« hingearbeitet wird, ist vermutlich vor allem jenes erweiterte Deutschland in den Grenzen des heiligen Römischen Reiches gemeint. Dort, wo auf der Website des Europäischen Parlaments normalerweise die Büros der Abgeordneten stehen, wird bei Posselt konsequenterweise gleich die Adresse der Paneuropa-Union genannt, in der auch andere EU-Abgeordnete von CDU und CSU engagiert sind.

Die UnterstützerInnen der Vertriebenen kommen jedoch nicht nur aus der BRD, sondern aus dem gesamten Deutschland in den Grenzen von 1942: In Österreich verbreitet zur Zeit von FPÖ und andere rechte HeimatschützerInnen mittels eines vorgeschobenen Volksbegehrens gegen das tschechische Atomkraftwerk Temelin anti-tschechische Stimmung. Österreichs Vizekanzlerin Susanne Riess-Passer (FPÖ) will vor einem EU-Beitritt die Frage der Benes-Dekrete klären, Kanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP) will sie zu »totem Unrecht« erklären lassen, was zivilrechtliche Forderungen offenlassen würde.

Ein weiterer alter Verbündeter der Sudetendeutschen und ebenfalls EU-Beitrittskandidat ist Ungarn, das während des Zweiten Weltkriegs mit Nazi-Deutschland verbündet war. Der ungarische Außenminister Martonyi setzte sich mit seinem Ministerpräsidenten Orban für die Streichung der Dekrete ein. Die österreichische Außenministerin Benita Ferrero-Waldner unterstützte Ungarn daraufhin mit ihrer Bemerkung, dass »angesichts der doch weit fortgeschrittenen Diskussionen im Rat über die Kosten der Erweiterung« die »Beitrittsverhandlungen mit Ungarn weiter ohne Verzögerungen« voran und alsbald zum Abschluss gebracht werden können (Faz 08.03.2002).

Nicht nur die österreichischen RechtspopulistInnen suchen nach neuen Verbündeten in der EU. Auch der bayrische Ministerpräsident Edmund Stoiber war in Ungarn und hat sich für dessen vorrangige Aufnahme in die EU ausgesprochen.

Wie in Deutschland, so ist man sich auch in Österreich über die politischen Lagergrenzen hinaus einig: Der für die SPÖ gewählte parteilose Europa-Abgeordnete Hans-Peter Martin spricht schon davon, Tschechiens EU-Beitritt könnte »kippen«. Die konservative Europaabgeordnete Ursula Stenzel (ÖVP), Vorsitzende der Tschechien-Delegation im EU-Parlament, warnt unmissverständlich, dass »niemand vergessen sollte, dass das Europaparlament das letzte Wort bei der Aufnahme neuer EU-Mitglieder hat« (Die Presse 01.03.2002).

Diese Drohung mit politischen Mitteln erscheint zur Zeit wirkungsvoller als eine juristische Vorgehensweise. Gelegentlich wird auf europäische Rechtsstandards verwiesen, die angeblich durch die Enteignung der Vertriebenen verletzt würden. Der EG-Vertrag besagt jedoch das glatte Gegenteil: »Dieser Vertrag läßt die Eigentumsordnung in den verschiedenen Mitgliedsstaaten unberührt.«

Und das ist auch gut so.

Eine Formel im Beitrittsvertrag, die auf die Aufhebung der Dekrete zielen würde, wäre ein Einfallstor für Entschädigungsforderungen. Damit würden von den Siegermächten beschlossene Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges für Deutschland zu einem weiteren Teil wieder rückgängig gemacht werden.
Prag befürwortete anfangs die Formel »erloschene Dekrete«, mit der diese nicht ausdrücklich aufgehoben werden, sondern klargestellt wird, dass die Enteignungen wirksam bleiben und Teil der Geschichte sind.

Damit wäre auch den Ergebnissen eines Treffens zwischen dem tschechischen Regierungschef Milos Zeman und dem deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder entsprochen: Anfang 1999 hatte Schröder »so wie er einen Scherz über das Wetter machen würde, eine kleine historische Sensation bekannt gegeben« (Faz). Weder die BRD noch die Tschechische Republik wollten künftig finanzielle Forderungen mit Blick auf die Vergangenheit aneinander richten.

Vor drei Jahren hatte der deutsche Bundeskanzler offensichtlich noch nicht berücksichtigt, wie weit Deutschland bis zum Ende der rot-grünen Regierungsperiode gehen würde, was das Auslöschen der Nazi-Vergangenheit aus dem kollektiven Gedächtnis betrifft.

Heute folgt der Bundeskanzler statt voreilig Frieden mit Nazi-Opfern zu schliessen lieber den Aufrufen der rechten Opposition und sagt seinen Besuch in der Tschechischen Republik ab. Das ist eines von vielen Anzeichen dafür, wie sich das politische Klima in Deutschland gerade bezüglich der Bewertung der faschistischen Vergangenheit in den letzten drei Jahren verändert hat. Auschwitz wurde von Rot-grün im Angriffskrieg gegen Jugoslawien als positiver Standortfaktor benutzt, mit dem sich weitere Kriege begründen lassen. Damit macht die Bundesregierung Täter zu Opfern.

In der deutschen und europäischen Diskussion über die Bedeutung der Benes-Dekrete werden die Sudetendeutschen inzwischen meist als Opfer begriffen. Äußerungen des tschechischen Ministerpräsidenten dagegen lösen ein Erdbeben aus, obwohl er doch nur die Wahrheit sagt.


Milos Zeman
im Interview des österreichischen Nachrichtenmagazins Profil:

Es gab viele Greueltaten tschechischer Bürger an Sudetendeutschen.
Zeman: Ja, das stimmt. Ich war auch der erste tschechische Politiker, der solche Verbrechen verurteilt hat. Aber vergessen Sie auch nicht, dass diese Sudetendeutschen vor dem Überfall Hitlers tschechoslowakische Staatsbürger waren. Nach dem tschechischen Recht haben viele von ihnen Landesverrat begangen, ein Verbrechen, das nach dem damaligen Recht durch die Todesstrafe geahndet wurde. Auch in Friedenszeiten. Wenn sie also vertrieben oder transferiert worden sind, war das milder als die Todesstrafe.

… Zu den Österreichern. Sie waren nicht das erste Opfer, sondern der erste Unterstützer des meistverbrecherischen Systems in der Geschichte der Menschheit. Bitte denken Sie zuerst darüber nach.


… Außerdem darf man nicht vergessen, dass die Sudetendeutschen die fünfte Kolonne Hitlers waren, um die Tschechoslowakei als einzige Insel der Demokratie in Mitteleuropa zu zerstören. Kann man jetzt wirklich Versöhnung für Verräter fordern?


Übrigens:
… wurde der ungarische Premier Orbán ebenso wie die österreichische Vizekanzlerin Riess-Passer bei einem Besuch in Washington nicht von Präsident George W. Bush empfangen. Die US-Botschafterin in Budapest hatte das Überhandnehmen antisemitischer Töne im öffentlichen Diskurs beanstandet.

… wurden die Waffen für den israelischen Unabhängigkeitskrieg aus der Tschechoslowakei geliefert.

…hat der tschechische Ministerpräsident Milos Zeman die Situation Israels nach dem 11. September mit derjenigen der Tschechoslowakei bei der Münchener Konferenz verglichen.
… werden die Sudetendeutschen nicht nur als fünfte Kolonne Hitlers, sondern auch als vierter Stamm Bayerns bezeichnet.

… wird in der österreichischen Linken eine lebhafte Diskussion über den Umgang der Benes-Dekrete mit AntifaschistInnen geführt.

… können »Deutschstämmige« in der Tschechoslowakei in führende Ämter gelangen: Vaclav Klaus (Parlamentspräsident, Ministerpräsident), Jiri Dienstbier (Außenminister) oder Miloslav Ransdorf (KP-Vorsitzender) sind Beispiele dafür.

… sind in der Tschechischen Republik im Juni Parlamentswahlen.

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