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Ilka Schröder

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Grundrechte | Denkpause 10 | 11.12.00

Charta + Europol-Reform = -(Rechtsstaat)

EU-Grundrechtssubtraktion

Zusammen mit der Grundrechtscharta verabschieden die EU-Regierungschefs in Nizza gleich deren Bruch. Ein Paket von neuen Beschlüssen beinhaltet gewaltige Kompetenzerweiterungen für die Europäische Polizeibehörde Europol. Rechtsstaatliche Maßstäbe spielten bei der Planung offenbar keine Rolle mehr.

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Eine »Charta«, das kennt man in Europa: Die VerfassungspatriotInnen des Kontinents berufen sich auf eine Tradition, die bis zur Magna Charta aus dem Jahr 1215 zurückgeht. Dass es damals lediglich der Adel war, der dem englischen König John bestimmte Rechte abtrotzte, während die hundertmal größere Zahl an Leibeigenen und Zinsbauern rechtlos blieb, stand bei der Begeisterung für angeblich achthundert Jahre europäischer Verfassungstradition immer im Hintergrund.

Seitdem wurden Cartae und Chartes, Charters und Chartas immer dann verabschiedet, wenn jemand eine neue Ära der Geschichte einläuten wollte. Meistens war es damit nicht so weit her wie behauptet. Das erklärt sich schon daraus, dass diejenigen, die da die Große Wende verkündeten, ihre Karriere zumeist als Erfüllungsgehilfen der Verantwortlichen des alten Systems gestalteten. So steht die Europäische Union in guter Tradition, wenn sie sich auf dem Gipfel von Nizza am zweiten Dezember-Wochenende endlich auch eine Charta zulegt. Knapp zwei Jahre nach dem Rücktritt der EU-Kommission Jacques Santer soll aus den Ruinen ein neues, moralisch geläutertes Europa erstehen. Zumindest soll es so aussehen. Denn, so schwammig und lückenhaft die Grundrechte in der Charta an vielen Stellen formuliert sind, an Mechanismen zu ihrer Umsetzung ist zunächst nicht gedacht. Und da es also nicht verboten ist, halten sich die Regierungsoberhäupter gar nicht lange damit auf, bei ihren Planungen die Kriterien der Grundrechtscharta umzusetzen.

Wie unverbindlich das gefeierte Regelwerk ist, zeigt sich besonders deutlich im Umgang der Union mit den Persönlichkeitsrechten ihrer BürgerInnen. Denn parallel zum Charta-Hype läuft auch auf der europäischen Ebene der Dauer-Hype um die so genannte Innere Sicherheit weiter - und nicht selten kommen beide sich in die Quere.

Das jüngste Hätschelkind der SicherheitsfanatikerInnen, mit der sie aktuell jede Ausweitung von Ermittlungskompetenzen und jede Einschränkung von Bürgerrechten begründen, ist die Geldwäsche. Wie schon früher, als Terrorismus, Drogenhandel oder Schleuser-Kriminalität für denselben Zweck herhalten mussten, geistern durch die Reden phantastische Zahlen, deren Herkunft mindestens ebenso dubios ist wie die des gewaschenen Geldes. Das jährliche Volumen der Geldwäsche, so die sozialdemokratische französische Europa-Abgeordnete Martine Roure, betrage »bereits 1.000 Milliarden US-Dollar jährlich«. Der rechtsextreme irische Parlamentarier Niall Andrews wusste von Verlusten in Höhe von »Milliarden von Euro«; allein in seinem Heimatland werde der Verlust auf 40 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt. Auch darüber, was die Allzweckwaffe gegen das transnationale Verbrechen bewirken soll, sind sich Ganz-Rechts und Nicht-ganz-so-Rechts einig: Eine transnationale Polizeibehörde, und zwar eine, die mit möglichst vielen Sonderbefugnissen ausgestattet ist. Dazu eine Europäische Rahmengesetzgebung, welche die Mitgliedsstaaten verpflichtet, ihre häufig ohnehin schon ramponierten Standards in Sachen Persönlichkeitsschutz nochmals abzurunden.

Zu diesem Zweck wurde Mitte November im Europa-Parlament innerhalb weniger Tage ein Paket von Initiativen abgestimmt - und angenommen. Eine Änderung des Europol-Übereinkommens weitet die Befugnisse der europäischen Super-Polizei auf die Geldwäsche aus. Was bislang ein klassischer Folgedelikt vorhergegangener Kriminalität war, wird nun zum eigenständigen Straftatbestand höchster Ordnung.

Ausdrücklich hält das Protokoll fest, dass die Änderung keine Ausweitung der Europol-Kompetenzen auf vorhergegangene kriminelle Handlungen bedeute. Gleichzeitig wird die Ermittlungskompetenz der Polizeibehörde jedoch durch die Hintertür immens ausgeweitet. Künftig soll Europol so genannte Gemeinsame Ermittlungsteams der EU-Staaten »unterstützen« - sprich: mit ihnen zusammenarbeiten. Und diese Teams, die es bereits gibt, sollen ausdrücklich »Ermittlungen aller Art auch bei kleineren Vergehen« führen. Solche Teams könnten in Zukunft die Beobachtung von Finanztransaktionen übernehmen; sobald ein »Anfangsverdacht« auf Geldwäsche aufkommt, könnte die ohnehin schon involvierte Europol ganz offiziell die Ermittlungen übernehmen.

Bisher stand solchen Praktiken in einigen EU-Ländern noch das Bankgeheimnis entgegen. Doch künftig verbietet ein Abkommen den EU-Staaten, ein Rechtshilfe-Ersuchen mit der Begründung abzulehnen, es verletze das Bankgeheimnis. Nationale Gesetze, die die Vertraulichkeit des Zahlungsverkehr garantieren, müssten nun logischerweise abgeschafft werden.

Das gleiche gilt für Gesetze, welche die Vertraulichkeit des Anwaltsgesprächs schützen. Die »für Tätigkeiten der Finanzberatung durch unabhängige Anwälte oder Mitglieder von Anwaltskanzleien und die Angehörigen eines reglementierten juristischen Berufs geltenden Vertraulichkeitsvorschriften« dürfen nicht als Begründung für die Verweigerung eines Rechtshilfe-Begehrens angeführt werden und sind de facto zu kassieren.
Dem faktischen Verfassungsrang der Vertraulichkeit des Anwaltsgesprächs, der in den meisten europäischen Ländern gilt, spricht diese Vorschrift ebenso Hohn wie selbst den Standesregeln der Rechtsanwälte der Europäischen Gemeinschaft (CCBE). In dem Regelwerk, das so etwas wie einen Grundkonsens über die Stellung des Rechtsanwaltsberufs darstellt, heißt es: »Die Unabhängigkeit (des Rechtsanwalts) ist für das Vertrauen in die Justiz ebenso wichtig wie die Unparteilichkeit des Richters. (...) Die Wahrung der Unabhängigkeit ist für die außergerichtliche Tätigkeit ebenso wichtig wie für die Tätigkeit vor Gericht (...) Das Berufsgeheimnis (ist) gleichzeitig ein Grundrecht und eine Grundpflicht des Rechtsanwalts (...).«
In den neuen Grundrechtskatalog hat dieses Recht - das natürlich auch ein Grundrecht jedes Mandanten und jeder Mandantin, also potentiell jeder und jedes Einzelnen darstellt - keinen Eingang gefunden.

Immerhin heißt es hier: »Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation« und »Jede Person hat das Recht auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten«. Das ist ein bedeutendes Stückchen weniger als in bisher geltenden europäischen Vorschriften, die wiederum hinter den nationalen Gesetzen zurückbleiben, welche ihrerseits nicht einmal den gelten Grundrechtskonsens wiedergeben. So werden auf europäischer Ebene Grundrechte heruntergerechnet. Und an das, was dann herauskommt, hält man sich noch nicht einmal.

Am 30. November und 1. Dezember verabschiedeten die Justiz- und Innenminister der EU-Staaten eine Reihe von Papieren, die als Markstein auf dem Weg zur europäischen Super-Polizei gelten können: Ein Protokoll zur Änderung des Europol-Übereinkommens dehnt die Ermittlungskompetenzen der Polizeibehörde auf den Bereich Geldwäsche aus.
Ein Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen verbietet den EU-Staaten weitgehend, Rechtshilfebegehren von Europol oder aus einem anderen EU-Staat mit Verweis auf das Bank- oder Anwaltsgeheimnis abzulehnen.
Ein zwischenstaatliches Übereinkommen, das am Europäischen Parlament vorbei beschlossen wurde, regelt die Einführung so genannter Gemeinsamer Ermittlungsgruppen, die Europol »unterstützen« sollen.

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Zum Weiterlesen:

Mehr Informationen über die einzelnen Gesetzesänderungen finden sich in englischer Sprache unter: www.statewatch.org

Ältere Beiträge zur Grundrechtseinschränkung, insbesondere der »Privacy im Internet«:
www.ilka.org/themen/infotech.html

Chartaentwirf zum Download:
http://ue.eu.int/df/docs/de/CharteDE.pdf

Offizielle EU-Infoseiten über den Charta-Enstehungsprozeß:
http://ue.eu.int/df/default.asp?lang=de

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