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Festung Europa | Denkpause 12 | 12.05.01

ArbeitnehmerInnenfreizügigkeit nach der Ost-Erweiterung

EU-BürgerInnen zweiter Klasse

Die geplante Erweiterung soll die tödliche EU-Grenze weit nach Osten vorschieben. Für OsteuropäerInnen bleibt der Schlagbaum trotzdem dort, wo er jetzt ist. Allen voran die Deutschen wehren sich gegen eine sofortige Umsetzung des EU-Besitzstandes, der eine Arbeitsaufnahme in jedem anderen Mitgliedsstaat erlaubt.

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Vor zwölf Jahren war alles klar: »Wenn die D-Mark nicht zu uns kommt«, drohten DDR-BürgerInnen unverhohlen den BerichterstatterInnen westlicher Medien, »dann kommen wir eben zu ihr«. Das saß, und die Folgen sind bekannt: Monate später gab es die DDR nicht mehr, ihre einstigen Bürgerinnen und Bürger wurden zu Ossis, und die D-Mark kam.
Der Wohlstand kam freilich nicht, oder zumindest längst nicht so schnell, wie die an Marx und Engels offenbar nur unzureichend geschulten Kader der flugs gegründeten Filialen westlicher Parteien sich erhofft hatten. Und für alle, die künftig von noch weiter her kommen wollten, wurde der Todesstreifen an den Flüssen Oder und Neiße ausgebaut.

Heute begegnet man der zurückhaltenden Ankündigung mittel- und osteuropäischer Arbeitssuchender, ihre Arbeitskraft nach der Wiedervereinigung eventuell auch dem westeuropäischen Markt zur Verfügung zu stellen, mit dem Reflex der Abschottung. Protestierten 1989/90 die Massen mit dem Schlachtruf »Wir sind ein Volk!«, so drohen nun Gewerkschaften und CSU-PolitikerInnen in trauter Einigkeit, für die Abschottung des deutschen Arbeitsmarktes notfalls auf die Straße zu gehen.
Sieben Jahre, so hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder im Januar verkündet, müsse die derzeitige EU-Ostgrenze für ArbeitnehmerInnen noch gelten. Mit der Formel 5+2 kam ihm sein Parteifreund, der EU-Erweiterungskommissar Günther Verheugen, so weit wie nur möglich entgegen.
In einer vertraulichen Informationsnote hatte hingegen Verheugens Behörde noch Anfang März die Vorzüge eben gerade einer vollständigen Umsetzung des so genannten Schengen-Besitzstandes unmittelbar nach dem Beitritt der ost- und mitteleuropäsichen Länder gelobt: »Diese Option hat den Vorteil, dass sie das Prinzip der geographischen Einheit des gemeinsamen Marktes bewahrt und das normale Zusammenwirken der vier Grundfreiheiten gestattet. Sie würde Verhandlungen mit den Beitrittsländern unnötig machen, und sie würde sich in das allgemeine Verhandlungsprinzip einfügen, nach dem der Besitzstand unmittelbar nach dem Beitritt übernommen werden soll.«

In EU-Staaten wie den Niederlanden oder Portugal kann man die deutsche Panik vor der Einwanderung aus Osteuropa kaum nachvollziehen. Insbesondere dass VertreterInnen der deutschen Regierung, einst die lautstärksten Trommler für die Osterweiterung, nun sogar Beitrittsfristen in Frage stellen, stößt dort auf Unverständnis. Zumal Deutschland wirtschaftlich betrachtet die Zuwanderung bald genauso nötig haben dürfte wie die meisten anderen EU-Staaten.

Nach einer Berechnung des Statistischen Bundesamtes würde die Bevölkerung zwischen Rhein und Oder bei einem Immigrationsstopp innerhalb der nächsten 50 Jahre um rund 30 Prozent auf 58 Millionen sinken. Selbst wenn 300.000 Menschen pro Jahr einwandern sollten, würde die EinwohnerInnenzahl um sieben Millionen sinken. Schon dies würde wegen der damit einhergehenden anteilmäßigen Zunahme älterer BürgerInnen die Finanzierung eines Sozialsystems auf heutigem Standard unmöglich machen.

Das allein wäre für die neokorporatistische Bundesregierung sicher kein Problem, da das deutsche Sozialsystem in 50 Jahren ohnehin nur noch aus den Geschichtsbüchern überliefert sein wird. Fallende Nachfragen nach Immobilien, Konsumgütern und TAZ-Abos sollten die Bundesregierung allerdings beunruhigen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung geht in einer jüngst veröffentlichten Untersuchung davon aus, dass nach der Ost-Erweiterung zunächst 140.000 ZuwandererInnen pro Jahr nach Deutschland kommen werden; nach fünfzehn Jahren sollen es noch rund 90.000 sein.

Selbst nach dem Motto der deutschen Migrationspolitik »Nützliche, anpassungsbereite Ausländer rein!«, ist das Grenzregime also unsinnig. Natürlich bleibt es auch hier dabei: Jede rassistische oder ökonomische Selektion von Menschen ist anzugreifen. Alle EU-Binnen- und Außengrenzen müssen sofort für alle aus menschenrechtlichen Gründen geöffnet werden.
Doch nach wie vor werden die Kandidatenländer gezwungen, als Voraussetzung für ihren EU-Beitritt die neuen Außengrenzen der Gemeinschaft nach Schengen-Standard abzuschotten. Bei einer Anhörung im Innenausschuss des Europäischen Parlaments mussten im März VertreterInnen der Beitrittsstaaten von Litauen über Rumänien und die Türkei bis Zypern ihre Bereitschaft beteuern, das Grenzregime, das sich zur Zeit noch gegen ihre eigenen BürgerInnen richtet, in Zukunft selbst zu betreiben. Von dem einzigen Vorteil des Schengen-Abkommens - der Freizügigkeit innerhalb des Vertragsgebietes - werden die BürgerInnen dieser Staaten freilich erst einmal nichts haben. Auf den Flughäfen der Union wird dann wohl noch ein drittes Türchen eingerichtet werden müssen: Zu »Schengen« und »Non Schengen« müsste dann noch »Second Class Schengen« dazu kommen.

Auch für Gewerkschaftsbosse steht Abschottung an erster Stelle. Franz-Josef Möllenberg etwa, der Vorsitzende der Gewerkschaft Nahrungsmittel-Genuss-Gaststätten, fordert eine mindestens zehnjährige Übergangsfrist, und damit diese auch ja nicht von Scheinselbstständigen unterlaufen werden kann, soll sie für DienstleistungsunternehmerInnen aus den Beitrittländern, die sich in der alten EU niederlassen, gleich mit gelten.

IG-Bau-Chef Klaus Wiesehügel stimmt ihm im Prinzip zu. Auf jeden Fall sei die von Schröder verlangte siebenjährige Übergangsfrist »das untere Minimum«. Realistisch stellt Wiesehügel fest, bei seiner Kundschaft gebe es einen «braunen Rand«. Und den will er weder loswerden noch mit Argumenten eines Besseren überzeugen, sondern mit eigener nationalistischer Propaganda einbinden.
Frank Bsirske, grüner Vorsitzender der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di fürchtet um die kleinen und mittleren Unternehmen, die dem Konkurrenzdruck aus dem Osten nicht standhalten könnten. Dort kommentiert man solche argumentative Schützenhilfe aus unberufenem Munde nicht; schließlich hofft man darauf, arbeitsintensive Dienstleistungen und Fertigungsschritte per Joint Venture in die östlichen Niedriglohngebiete auslagern zu können. Die aber werden auch nur solange billig bleiben, wie sie durch Sondergesetze etwa zur Freizügigkeit von ArbeitnehmerInnen billig gemacht werden.
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Zum Weiterlesen:

Fundstellennachweis Gemeinschaftsrecht: Freizügigkeit der
Arbeitnehmer und Sozialpolitik
http://europa.eu.int/eurlex/de/lif/ind/de_analytical_index_05.html

DIW: Studie zu Auswirkungen der Freizügigkeit
http://www.diw.de/deutsch/projekte/docs/wlt_enlargement_EU.html

EP: Freizügigkeit für Personen
http://www.europarl.eu.int/factsheets/2_3_0_de.htm?redirected=1

Materialien zum Europäischen Arbeitsrecht im Internet
http://www.jura.uni-sb.de/FB/LS/Weth/InfEA/idx.htm?/FB/LS/Weth/InfEA/internet/de/internet.htm

FTD: EU-Osterweiterung
http://www.ftd.de/eu-osterweiterung

Themenschwerpunkt Zuwanderung und Asyl in Jungle World
http://www.jungle-world.com/_2001/19/inhalt.htm#thema

Ilka Schröder zu Festung Europa
http://www.ilka.org/themen/fe.html

Ilka Schröder zu Kapitalismus
http://www.ilka.org/themen/ak.html

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