EU | Denkpause 14 | 17.09.01 [English]
GlobalisierungsgegnerInnen - Lieblinge der EU? Repressive ToleranzDie wirkliche Neuigkeit an den Gewaltorgien der Staatsgewalt ist nicht der Mord an Carlo Giuliani, sondern die zur Schau gestellte Selbstsicherheit der Herrschenden. Italien führte in Genua den vorerst letzten Akt jener Reality-Show auf, zu der Innenminister Otto Schily und hochrangige VertreterInnen der Grünen das Drehbuch geschrieben haben. Göteborg setzte Standards. DemonstrantInnen werden aus ihrem Kongresszentrum vertrieben und durch die Stadt gehetzt. Als sie sich mit bescheidenen Mitteln gegen die Polizeigewalt wehren, wird drei Gipfelgegnern in den Rücken geschossen. Nur durch Zufall überlebt ein lebensgefährlich verletzter Demonstrant. In Schweden amtiert eine sozialdemokratische Regierung, die von den Grünen toleriert wird. Die Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Europäischen Parlament, Heidi Hautala, kritisierte nach den misslungenen Todesschüssen von Göteborg nicht das Vorgehen der Polizei, sondern das ihrer Opfer als »reinen Hooliganismus«. Der Hass auf AntikapitalistInnen war in der EU vor dem G8-Gipfel in Genua grenzenlos. Ob die Hinrichtung eines antikapitalistischen Demonstranten nun offen auf Ministerebene abgesprochen, ob der Mörder nur von der italienischen Regierung beauftragt war, oder ob er im stillschweigenden Einverständnis gehandelt hat, wird wohl nie geklärt werden. Aber diese Frage ist zweitrangig. Entscheidend war das politische Klima in der EU vor Genua. Gerade von den sogenannten Mitte-Links-Regierungen wurde es so gestaltet, dass die Tötung eines Demonstranten die logische Folge war. Zur Schaffung dieses Stimmung waren die rot-grünen Regierungen mit ihrer 70er-Jahre-Vergangenheit bestens geeignet. Joseph Fischer setzte sich früher selbst militant gegen PolizistInnen zur Wehr. Heute brandmarkt er DemonstrantInnen in der gesellschaftlichen Wahrnehmung als Terror-Monster, selbst wenn Gewalt nur gegen Fensterscheiben angewandt wird. Auch die parlamentarische Linke Italiens hat nicht nur mit der Vorbereitung des Gipfels in Genua ihren Beitrag zur Repression geleistet. Sie hat die in faschistischer Tradition stehenden Polizeiorganisationen immer weiter ausgebaut, und mit dem Umbau einer Militäreinheit in eine Polizeitruppe jene Carabinieri erschaffen, die nun zu Vollstreckern wurden. Über das Erwartete hinaus sind die italienischen Repressionsmaßnahmen aber vor allem durch die kalkulierte Miss?handlung großer Mengen von schlafenden DemonstrantInnen aufgefallen. Der 21jährige Student Daniel A. berichtet: »Sie bedeuteten uns, wir sollten uns hinsetzen und fingen sofort und ohne jegliche Umschweife an, gezielt und mit aller Kraft auf die Menschen einzuschlagen, gezielt auf die Köpfe der Menschen und in unglaublich brutaler Manier.« Weitere physische und psychische Misshandlungen fanden in einer Polizeikaserne und in Krankenhäusern statt. Zentrales Ziel der Aktion dürfte es gewesen sein, per Mundpropaganda unter DemonstrantInnen die Warnung zu verbreiten: Gehe nicht zu antikapitalistischen Aktionen, halte Dich fern von GlobalisierungskritikerInnen - sonst kriegt du ordentlich was auf die Fresse und wanderst in den Knast. Doch das Kalkül der G8 ging nicht ganz auf. Selbst konservative Zeitungen haben über die Brutalität des Polizeieinsatzes geschrieben. In Deutschland war der Globalisierungsgegner in diesem Sommer gar der Liebling der Nation. Bis hinein in die CDU distanziert man sich von den eigenen Ausreisebeschränkungen. Was eben noch »idiotisch« (Cohn-Bendit) war, entpuppte sich jetzt plötzlich als »die Bewegung wenn nicht des Jahrhunderts, so doch des Jahrzehnts« (Cohn-Bendit). Die Grünen fordern im Europäischen Parlament, den GlobalisierungskritikerInnen Räume für ihre Foren in Brüssel zur Verfügung zu stellen. Die Autorin dieses Textes, gegen die vor dem Parteischiedsgericht ein Ordnungsverfahren wegen zu linker Politik anhängig ist, wird plötzlich von der eigenen Partei für Wahlkampfeinsätze angefragt. Um eine Strategie gegen die antikapitalistischen Proteste zu entwickeln, benötigt man keine Denkfabrik. Eine Spaltung der Bewegung in einen illegalisierten Flügel und das parallele Aufsaugen der restlichen GlobalisierungsgegnerInnen in die etablierten politischen Strukturen liegt nahe. Die Fraktionsvorsitzende der Bundestags-Grünen, Kerstin Müller, zeigte sich bereits verwundert, wie gemäßigt die Forderungen mancher GlobalisierungsgegnerInnen seien. Nach einigen Monaten symbolischer Reibereien werden sich die Grünen daher absehbar mit dem lobbyistischen Flügel der Bewegung handelseinig sein: Die Tobin-Steuer wird im neuen Grundsatzprogramm mit »ernsthaft zu prüfen« aufgenommen, die Sanktionen gegen Finanzparadiese verschärft, zumal öffentlich sowieso noch nie einE PolitikerIn etwas dagegen hatte. Im Gegenzug kandidiert ein hochrangiger Vertreter der (Noch-) Nichtregierungsorganisation »Attac« für die Grünen 2002 zum Bundestag. Mit dem guten Namen »Globalisierungsgegner« bringt er gleich ausreichend WählerInnenstimmen, um noch drei normalliberale, ordokapitalistische Neokorporatisten von den hinteren Listenplätzen mit ins Parlament zu ziehen. Das gleiche Spiel ist in anderen EU-Staaten ähnlich möglich. Während die Verstaatlichung bestimmter Teile der Anti-Atom-Bewegung oder der Friedensbewegung Jahrzehnte dauerte, so deutet heute alles darauf hin, dass dies mit dem institutionalisierbaren Flügeln der globalisierungskritischen Bewegung im Schnellverfahren geschehen wird. Im Gegensatz zu Ex-Linken wie Angelika Beer wird man dem reformorientierten Teil der GlobalisierungsgegnerInnen allerdings kaum Brüche in der Biografie nachweisen können. Ihre Forderungen sind schon jetzt die des »außerparlamentarischen Arms der Sozialdemokratie« (BUKO). Zum Weiterlesen:Quellen der Zitate: |
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