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Grundrechte | Denkpause 15 | 05.11.01
EU im Terror-Fieber - Aufwind für Grundrechteabbau
Trittbrettfahrer in Amt und Würden
Die TechnokratInnen der Repression reiben sich die Hände: Nach den Anschlägen in den USA gilt in Europa und besonders in Deutschland die Devise »Anything goes«. Ein Vierteljahrhundert nach dem »Deutschen Herbst« heißen die Trends plötzlich wieder Rasterfahndung und Lauschangriff, und niemand kann sicher sein, kein Terrorist zu sein.
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Ginge man streng nach dem Prinzip »cui bono?« (»Zu wessen Nutzen?«) vor, dann müsste man die Urheber der Anschläge in den USA im Brüsseler Ratsgebäude, in den Büros der EU-Kommission und den Innenministerien der Mitgliedsstaaten suchen. Denn hier sitzen die leitenden BeamtInnen, die sich jetzt freuen, all ihre Projekte zur Überwachung und Repression, zur Zusammenschaltung aller Polizeien und Geheimdienste und zur Kriminalisierung von linkem Widerstand im Eilverfahren durchziehen zu können.
Scheinbar geschieht all dies unter dem Druck der Ereignisse, doch in Wahrheit ist die neue Offensive an der Inneren Front von ebenso langer Hand vorbereitet, wie es die mörderischen Anschläge in den USA waren.
Allein, was in der EU zur Zeit diskutiert wird, reicht aus, um aus Europa einen Polizeistaat mittlerer Ordnung zu machen: Da werden DemonstrantInnen zu TerroristInnen gestempelt, sobald sie es wagen, ein Gebäude zu besetzen oder gar Staatseigentum (zum Beispiel Polizei-Autos) zu zerstören. Mit dem europäischen Haftbefehl wird der rechtliche Schutz für Verhaftete automatisch dem jeweils niedrigsten in einem Mitgliedsland geltenden Niveau angepasst. Und in verschiedenen Arbeitsgruppen, gemischten Ermittlungsteams und informellen Zusammenschlüssen sollen Polizei und Geheimdienste eng verzahnt werden, so, wie es bislang noch in jedem autoritären Staat der Fall war. Während in Deutschland die Union bereits plant, die Bundeswehr gegen die eigene Bevölkerung einzusetzen, gibt sich Rot-Grün gemäßigt und will nur die im Zentralregister nationalsozialistischen Andenkens erfassten Ausländer aufs Korn nehmen. Dazu passt, dass auch die Kronzeugenregelung wieder auferstehen soll - sie war nie mehr und nie weniger als das Bekenntnis des Rechtsstaats, dass er sich selber nicht so ganz ernst nimmt.
Keine Frage: Die Anschläge in den USA stellen einen neuen Höhepunkt des internationalen Terrors dar. Allein schon wegen der Gefahr, die vom Terrorismus islamistisch-antisemitischer Prägung für hunderte von Millionen Menschen ausgeht, muss dieser bekämpft werden. Die innenpolitische Repressionswelle dient aber diesem Ziel ebenso wenig wie der Krieg in Afghanistan.
Im Eilverfahren treiben sie die Gesetzesvorhaben durch die europäischen Institutionen. Auf vielen Gebieten - etwa beim mangelnden Zeugenschutz oder bei der Sondergesetzgebung für »Terroristen« - übernimmt die EU dabei rechtsstaatliche Standards, die aus der Bundesrepublik des »Deutschen Herbstes« 1977 stammen und weit unter den rechtlichen Garantien der anderen EU-Staaten liegen. In Deutschland sorgt man gleichzeitig dafür, dass man weiterhin Avantgarde bleibt: Zackig marschiert die rot-grüne Koalition - Innenminister Otto Schily im Kantherschen Stechschritt voran - in eine Zukunft, welche die trügerische Sicherheit eines preußischen Kasernenhofs bieten wird. Längst vergessen geglaubte Relikte der bleiernen Zeit wie die Rasterfahndung gehören aufs Neue zum Repertoire der Ermittlungsbehörden. Bald schon sollen sie durch moderne Methoden wie Überwachungskameras, Biometrie, Gen-Datenbanken und flächendeckendes Abhören der elektronischen Kommunikation zu einem Netz totaler Rundum-Überwachung verwoben werden. Verbrechen, scheint das Kalkül der EU-SicherheitsfanatikerInnnen zu lauten, werden in unbeobachteten Momenten geplant - also sollen diese Momente systhematisch eliminiert werden.
Das ist auch ein wunderbares Rezept für die Errichtung einer Diktatur. Schlussfolgerungen, die man einst aus den Erfahrungen des Nationalsozialismus zog, gelten nicht mehr viel in diesen Tagen. Die Trennung von Polizei und Geheimdiensten, die in der BRD 50 Jahre lang weitgehend praktiziert wurde, weil die Siegermächte verhindern wollten, dass eine neues Reichssicherheitshauptamt entsteht, wird aufgehoben, denn mit vereinten Kräften muss es jetzt gegen den Terrorismus gehen. Schädelmessungen (die jetzt elektronisch durchgeführt werden und deswegen Gesichtserkennung heißen) erleben eine Wiedergeburt, und das Ausländerzentralregister soll als Zentralkomponente der Rasterfahndung noch häufiger als bisher konsultiert werden - vergessen, dass die Nazis die schon vor der Machtübernahme angelegten Karteien der so genannten Zigeunerleitstellen für die Vernichtung der Sinti und Roma gebrauchten. So sieht Revisionismus in der Praxis aus.
Während die Repression in Deutschland (und mit dem neu aufgelegten »Plan Vigipirate« auch in Frankreich) ethnisiert wird, richtet sie sich auf EU-Ebene in erster Linie gegen soziale Bewegungen. Der Rahmenbeschluss des Europäischen Rates »zur Terrorismusbekämpfung« erreicht sein vorgebliches Ziel ausschließlich dadurch, dass er tausende von Demonstrierenden zu TerroristInnen erklärt und mit Sonderstrafen belegt. Auch so lassen sich Erfolge im Kampf gegen den Terrorismus erzeugen. In Artikel 5 des Rahmenbeschluss-Entwurfs ist festgelegt, wer als »Terrorist« gilt. Das ist demnach schon, wer bei einer Demonstration mit Staatseigentum so rüde umspringt, dass dieses dabei Schaden erleidet. Auch wer sich auf einer Straße oder einer Eisenbahnstrecke niederlässt, um den Verkehr zu behindern, macht sich damit zum Terroristen oder zur Terroristin: »Widerrechtliche Inbesitznahme oder Beschädigung einer staatlichen oder Regierungseinrichtung, eines öffentlichen Transportmittels, einer Infrastruktur-Einrichtung, eines öffentlichen Orts oder öffentlichen Eigentums« heißt das neue Delikt. Die Höchststrafe dafür darf künftig in keinem EU-Staat mehr unter fünf Jahren liegen.
Wer jetzt darauf hofft, die Arrestzellen der Berliner Polizei könnten im nächsten Sommer unter dem Ansturm von einer Million Love-Parade-BesucherInnen zusammenbrechen, hat sich allerdings getäuscht. Es muss schon die Absicht vorliegen, »die politischen, ökonomischen oder sozialen Strukturen eines Landes ernsthaft zu verändern«, heißt es im Entwurf der EU-Kommission zum Rahmenbeschluss. Sollte allerdings am 6. Dezember beim Treffen der Europäischen Innen- und JustizministerInnen in Brüssel der Terrorismus-Rahmenentwurf in der Form angenommen werden, die am 10. Oktober neu auftauchte, dann könnte es doch eng werden für die Love Parade: Anstatt »ernsthaft verändern« heißt es jetzt »ernsthaft beeinflussen«. Es hat Zeiten gegeben, da wurde das als das Wesen der real-existierenden Demokratie angesehen: Dass jedeR die Möglichkeit hat, die politischen Strukturen zu beeinflussen.
Eine deutsche Spezialität hat man mit dem Absatz 5 (m) des EU-Rahmenentwurfs aufgenommen: Demnach wird mit einer Höchststrafe von sieben und mehr Jahren nicht nur belegt, wer Mitglied einer »terroristischen« Gruppe ist, sondern auch, wer eine solche unterstützt oder fördert. Unterstützung ist ein weites Feld. Zählt dazu schon, die Isolationshaft für RAF-Gefangene in Deutschland als Folter zu bezeichnen, wie es amnesty international getan hat?
Auf jeden Fall sollte sich niemand mehr in Sicherheit fühlen, weil die Regierung im eigenen Land vielleicht relativ liberal ist und die neuen Gesetze schon nicht ausreizen wird: Mit dem Europäischen Haftbefehl, der gleichzeitig verabschiedet wird, kann jedeR ohne weitere Komplikationen oder Einspruchsmöglichkeiten an das Land ausgeliefert werden, das sich als zuständig ansieht: Dann können DemonstrantInnen, die zum Beispiel gegen ein Gipfeltreffen in einer italienischen Stadt demonstriert haben, an das dortige Regime ausgeliefert werden, auch wenn sie in ihrem Heimatland als eindeutig unschuldig angesehen würden. Für eines haben die EU-Regierungschefs, ihre MinisterInnen und ErfüllungsgehilfInnen in Brüssel auf jeden Fall gesorgt: Der Vorrat an TerroristInnen wird in den nächsten Jahren nicht ausgehen. Und wenn den gewaltigen Konglomeraten aus Polizeien und Geheimdiensten, die zur Zeit organisiert werden, den justiziellen Netzwerken und verdeckten ErmittlerInnen doch einmal die Arbeit ausgehen sollte, dann müssen gar keine neuen Gesetze erlassen werde: Man legt die alten einfach ein bisschen rigider aus, und schon gibt es tausende von neuen Fällen.
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Zum Weiterlesen:
In Frankreich nützt die Regierung die aktuelle Krisensituation aus, um ein »Gesetz über die Sicherheit von Informationen« durchzudrücken, das genau das Gegenteil erreicht: Die Weitergabe von Kryptographie-Software soll unter staatliche Kontrolle genommen werden. Dort findet eine linke Diskussion über die aktuelle Repressionswelle statt, die sich einer regen Beteiligung erfreut. Zum Beispiel bei
http://www.france.indymedia.org
Die USA haben ein Gesetz, den »PATRIOT Act«, erlassen, der der Polizei zahlreiche neue Vollmachten einräumt und vor allem die Möglichkeiten zur Überwachung und zum Abhören von Datenverkehr ausweitet. Anders als in Europa ist das Gesetz aber mit einer zweijährigen »Verfallsdauer« versehen.
In Australien verabschiedete das Parlament am 27. September ein Cybercrime-Gesetz, das für »computerbezogene Straftaten« bis zu zehn Jahre Gefängnis vorsieht. Die Innen- und Justiz-Staatssekretäre des Europarats hatten ihre eigene Cybercrime-Konvention schon am acht Tage vorher durchgewunken; zu früh, um sie als Reaktion auf die Anschläge in den USA verkaufen zu können. Endgültig verabschiedet werden soll das Abkommen am 8. November - dann kann man argumentativ noch einmal nachlegen.
In Russland sollen Personen, die des Terrorismus oder der organisierten Kriminalität verdächtigt werden, bis zu 30 Tage ohne formelle Anklage und ohne Kontakt zu einem Anwalt festgehalten werden dürfen.
In Großbritannien sollen des »Terrorismus« Verdächtigte keinen Asylantrag mehr stellen dürfen.
Der Chaos Computer Club betreibt unter http://chaosradio.ccc.de/cr66html ein Webradio, das sich vor allem die Konstruktion der derzeitigen Spannungssituation zum Thema gemacht hat.
Ilka Schröder zur Inneren Sicherheit, insbesondere »Privacy im Internet«: https://www.ilka.org/themen/infotech.html
Presseerklärung Ilka Schröder 21.09.2001 zu »Anti-Terror-Gipfel in
Brüssel: Die Toten werden instrumentalisiert« http://www.ilka.org/presse/pms46.html
Presseerklärung Ilka Schröder 13.09.2001 zu »CIA hat Taliban gefördert - Geheimdienste
abschaffen«
http://www.ilka.org/presse/pms45.html
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