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Ilka Schröder

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Europa | Denkpause 4 | 22.02.00

Kapitalismus oder Marktwirtschaft

Europas "Dritter Weg"

Die portugiesische Ratspräsidentschaft hat das Thema Sozial- und Beschäftigungspolitik ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt. Für den März ist in Portugal ein Sondergipfel »Employment, Economic Reform and Social Cohesion« angesetzt. Der Zweck des Gipfels ist es, Europa zu befähigen, den weltweiten Wettbewerb anzuführen, wie der portugiesische Außenminister Jaime Gama im Januar vor dem Europäischen Parlament verkündete.

[Ilka Schröder fordert | Weitere Informationen]

Bereits kurz vor der Europawahl traten Tony Blair und Gerhard Schröder mit ihrem Papier »Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten.« an die Öffentlichkeit. Das schlechte Wahlergebnis der sozialdemokratischen Parteien in Deutschland und im Vereinigten Königsreich konnte sie nicht von ihrem Vorhaben abbringen, die Akkumulationsbedingungen des Kapitals zu Lasten der armen Bevölkerungsschichten weiter zu verbessern.

Sie wollen damit den »Dritten Weg« gehen, der weder Kapitalismus, noch soziale Marktwirtschaft bedeutet. Die ErfinderInnen haben noch keinen anderen Namen als den mit der Nummer gefunden, obwohl es den Ausdruck nun schon seit einigen Jahrzehnten gibt.

Auf einem Sondergipfel in Lissabon wollen die europäischen Regierungen der »neuen Mitte« im März den EU-weiten Sozialabbau organisieren.

Zuckerbrot und Peitsche - oder euphemistisch ausgedrückt, der »aktivierende Sozialstaat« - ist der wichtigste Pfeiler der Konzepte der »neuen Mitte«. Zuckerbrot gibt es in Form von Lohnsubventionen und anderen Förderprogrammen für die Wirtschaft, die Peitsche droht dem unwilligen »Humankapital«: Wer nicht arbeitet soll auch kein Geld bekommen. Transferzahlungen werden drastisch gekürzt, wenn die Annahme meist untertariflich bezahlter Arbeit (z.B. auf dem Spargelacker oder im Atomkraftwerk) verweigert wird.

Ein wichtiger Aspekt der Ideologie der »Neuen Mitte« ist der Wille zu undemokratischen Lösungen im Konsens. Die gewählte Regierung setzt sich mit noch weniger legetimierten Institutionen wie Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaftsbossen an einen Tisch, um im Rahmen eines »Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit« die Reduzierung der Unternehmenssteuern, Lohnnebenkosten und die Aushebelung des gewerkschaftlichen Tarifvertragsrechts zu beschließen. Dabei soll ein staatlich geförderter Niedriglohnsektor herauskommen.

Auf EU-Ebene nimmt die Europäische Kommission in der Sozial- und Beschäftigungspolitik eine moderierende Funktion zwischen Industrie- und Gewerkschaftsfunktionären ein. Der portugiesische Premierminister António Guterres möchte auf dem Sonderrat die Beschäftigungspolitik nach dem Prinzip der »best-practice« festschreiben. Schröder und Blair meinen mit dem aus der Wirtschaft bekannten Prinzip »Benchmarking« das gleiche: Von denen, die Sozialabbau und Arbeitspflicht am besten umsetzen, können alle anderen etwas lernen. Arbeitspflicht in Dänemark und der »New-Deal« Tony Blairs würde als »best practice« europäischer Standard, weil in der Statistik die wenigsten Arbeitslosen auftauchen.

Nach den Vorstellungen einiger VertreterInnen der »Neuen Mitte« sollen ArbeitnehmerInnen auch noch zusätzlich für eine private Zusatzrente zahlen. Da die GeringverdienerInnen das natürlich nicht können, wird der Abstand zwischen arm und reich im Alter potenziert. Global weht den Neoliberalen inzwischen der Wind ins Gesicht. Nach den Anti-WTO-Aktionen in Seattle kam es auch im beschaulichen Davos beim Weltwirtschaftsforum zu Protesten. Die Tatsache, daß die DereguliererInnen nicht nur weltweit und national, sondern auch auf EU-Ebene vorgehen, ist manchen aber noch nicht genügend bewußt geworden. Viele Linke gehen davon aus, daß die französischen SozialistInnen den »Dritten Weg« ihrer GenossInnen aus Großbritanien und Deutschland verhindern wollen. Schließlich hatten jene ja ein »Jospin-Papier« gegen Schröder/Blair vorgelegt.

Was steckt dahinter? Der französische Philosoph Pierre Bourdieu warnt davor, von den französischen SozialistInnen zu viel zu erwarten. Der Grund, warum Jospin das Schröder/Blair-Papier nicht mitgetragen hat, liegt seiner Meinung nach »in der Stärke der sozialen Bewegungen in Frankreich, die es den regierenden Sozialisten nicht möglich macht, die Blairsche Modernisierung in gleicher Weise mitzutragen. ...aber im Geiste ist die Sozialdemokratie Frankreichs auf der Seite der Modernisierer.« Auch der französische Europaparlamentarier Alain Krivine (LCR) warnt die deutsche Linke vor der »Liebenswürdigkeit der französischen Sozialdemokraten«. Wegen des günstigeren Kräfteverhältnis zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie »benutzen sie zur Umsetzung neoliberaler Politik soziale Etiketten.« Jospin habe mehr privatisiert als seine zwei oder drei rechten Vorgängerregierungen zusammen.

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[EU-Politik] Ilka Schröder fordert:

  • Der Widerspruch zwischen arm und reich kann nicht von Regierungen und Regierungskonferenzen aufgelöst werden. Erforderlich ist ein Aufbruch von unten gegen die Kapitalisierung der Gesellschaft von oben.
  • Die ruinöse und existenzgefährdende Logik des Shareholder-Kapitalismus muß durch ein Modell ersetzt werden, in dem statt der marktwirtschaftlichen eine politische Steuerung möglich ist. Dabei dürfen sich Betroffene nicht nur auf ihre StellvertreterInnen verlassen, sondern müssen selbst aktiv werden.
  • Es gibt viele schöne Plätze in Europa. Die schönsten sind nicht unbedingt Arbeitsplätze. Ein gutes finanzielles Auskommen für alle (nicht nur für EU-BürgerInnen) ist wichtiger als mehr Arbeitsplätze.

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Zum Weiterlesen:

Kommissarin für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten
europa.eu.int/comm/dg05/index_de.htm

Linkes Onlinemagazin, aktuellste Ausgabe zur »Neuen Mitte«
www.ornament-und-verbrechen.de
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