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Presseinfo
Nr. 02/2000
zur Kenntnis ein
weiterer Brief an alle Delegierten des Bundesparteitages B90/Grüne
An die
Delegierten zur BDK in Karlsruhe
z.K.
Landesvorstände
MdB
MdEP
BundesministerInnen
Landtagsfraktionen
Offener Brief: Abstimmungsverhalten BDK in Karlsruhe
Liebe Delegierte, lieber Delegierter,
liebe Parteifreundinnen und -freunde,
die Form eines Briefes an die Delegierten ist zwar ein neues, aber geeignetes Mittel, um der Basis frühzeitig mitzuteilen, welche Wünsche formale und virtuelle Parteiführung an Dich haben.
Auch wenn es etwas undemokratisch erscheint und wir Abstimmungsempfehlungen eher von anderen Parteien kennen, ist das dennoch nützlich. Die meisten Delegierten haben schließlich kaum Regierungserfahrung und können die Probleme einer Regierungsbeteiligung nur in einem geringen Maße abschätzen. Mir ist es wichtig, daß sich jedeR einzelne Delegierte mit den Anweisungen der Führung auseinandersetzt und sie sich zu Herzen nimmt.
In vielen Fällen hat die Parteiführung es in den letzten Monaten und Jahren geschafft, die richtige Entscheidung zu finden. Ein gewisser Vertrauensvorschuß der Parteibasis ist für die Führung jeder Regierungspartei notwendig. Manche Gelegenheiten bieten sich nur einmal an, schnelles Handeln ist erforderlich: Die Chance eines grandiosen »Politikwechsels« ist z.B. in der deutschen Militärpolitik nicht immer gerade dann gegeben, wenn auch ein Parteitag stattfindet. Hätte unsere Führung diese Chance des Angriffs auf Jugoslawien nicht ergriffen, wäre Deutschlands Ruf im internationalen Maßstab heute noch der eines Zivildienstleistenden.
Die Frage der Zusammensetzung der Verhandlungskommission oder der Besetzung der Ministerposten ist von unserer Führung richtig entschieden worden: Im Gegensatz zum Regierungsteam unseres Koalitionspartners sind unsere BundesministerInnen noch alle im Amt. Die Selbstrekrutierung der Parteielite ist also eine erfolgreiche Strategie zur Besetzung von Machtpositionen mit anpassungsfähigem Personal - auch wenn die Frauenquote im Einzelfall nicht eingehalten wurde.
Bei der Frage der Änderung der Parteistrukturen ist die Beschlußfassung einer Bundesdelegiertenkonferenz, und damit eine Beteiligung der nichtregierungserfahrenen Basis, leider unumgänglich. Ich hoffe aber, daß Du durch die Zustimmung zur Strukturreform signalisierst, daß die Führung in Zukunft noch mehr Entscheidungen ohne Deine Kenntnis und ohne Deine formale Zustimmung treffen darf. Schon heute werden nämlich die Führungsentscheidungen zu einem großen Teil in informellen Kreisen getroffen. Das darf so nicht weitergehen: Die Legalisierung dieser Kreise ist die Aufgabe der BDK in Karlsruhe.
Zerstreiten wir uns in Karlsruhe, verliert am Ende die ganze Partei. Zeigst Du dagegen Führungstreue, dann finden wir mit einer großen Mehrheit einen gemeinsamen Weg nach vorne. Wo der Kompromiß liegen wird, ist selbstverständlich durch die in der Öffentlichkeit bekannten Anträge der Führungsebene determiniert. Ein Umfallen der prominenten VertreterInnen unserer Partei würde uns weit mehr schaden, als die Nichtbeachtung eines Beschlusses Deines Kreisverbandes.
Ob die zur Satzungsänderung vorliegenden Anträge gut oder schlecht sind, darüber kann man sicher streiten. Zu Oppositionszeiten konnten wir diesen Streit öffentlich führen. Auch jetzt sollten wir in Karlsruhe fair und offen diskutieren, uns am Ende aber auf die Vorschläge der Führung einigen. Sogar für schlechte Ideen sollte die Führungsebene der Partei Deine vollste Unterstützung bekommen. Schließlich kann man die Satzung jedes Jahr ändern, es dürfen sogar die gleichen Personen sein, die widersprüchliche Änderungen einbringen. Die Gleichen, die letztes Jahr den Bundesvorstand verkleinert haben, wollen ihn jetzt wieder vergrößern; diejenigen, die damals den Parteirat wollten, wollen ihn jetzt wieder abschaffen. Häufige Satzungsdiskussionen haben - mehr noch als Debatten um das Grundsatzprogramm - den Vorteil, daß zurückgebliebene KritikerInnen an der Basis es schwerer haben, die Erfolgsbilanz der Regierungsbeteiligung unserer Führung auf die Tagesordnung zu setzen.
Ich möchte an Deine Kompromißbereitschaft appellieren, um das Selbstbewußtsein der Führung nicht zu zerstören. An der Stimmkarte in Deiner Hand liegt es, ob wir bei der Landtagswahl in NRW eine realistische Chance haben.
Obwohl ich hoffe, daß Du schon allein wegen der grundsätzlichen Führungstreue zu den unten genannten Entscheidungen kommen wirst, möchte ich noch einige inhaltliche Argumente zu den beiden wichtigsten Themen des Parteitages nennen. Zunächst zum Atomausstieg.
Unser Verhältnis zur Atomenergie hat sich nicht geändert. Wir lehnen sie als unbeherrschbar ab und würden ihren Betrieb lieber heute als morgen beenden. Tun wir aber nicht.
Auch wir müssen Rücksicht auf die Aktionärinnen und Aktionäre der Energiekonzerne nehmen. Dabei geht es um die Frage zukünftiger Wahlerfolge, schließlich gibt es in der Bundesrepublik Deutschland mittlerweile mehr AktionärInnen als Gewerkschaftsmitglieder. Deren finanzielle Interessen gilt es zu beachten: Seit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl (
ganz andere Bauart, natürlich) hat sich deren in Atomaktien investiertes Kapital vielleicht verfünffacht, verzehnfacht oder verzwanzigfacht. Jede Regierung, die diese Kursgewinne aufhält, macht sich zum Buhmann der AktionärInnen.
Zurückblickend zu streiten, wäre das Falscheste, was wir auf der BDK tun könnten. Sicher, auch von der Führungsebene wurden schwere strategische Fehler begangen, das will niemand verheimlichen.
Letztendlich wurde der Bundesumweltminister vom Konsensdruck des Fraktionsvorsitzenden, der UmweltpolitikerInnen der eigenen Fraktion und seiner MinisterkollegInnen politisch geschwächt.
Die Angleichung an deren Forderungen war die einzig richtige Reaktion, mit der er sich die Anerkennung der Atombosse sichern konnte. Auch wenn das für die Durchsetzung eines schnellen Atomausstieges ein Fehler war, hat sie dennoch das einheitliche Auftreten der Grünen in der Öffentlichkeit gefördert. In diesem Sinne sollte auch vom Parteitag das Signal ausgehen, daß ein »übers Knie gebrochener« Atomausstieg zwar umweltpolitisch richtig ist, nicht aber dermaßen zentral sein darf, wie der innere Zusammenhalt unserer Organisation. Grundlage muß die Konsensposition Schlauch/Loske/Hustedt/Baake sein, die von einer breiten Mehrheit der Bundestagsfraktion vorbildlich mitgetragen wird.
Es ist der Erfolg unserer guten internen Abstimmung, daß in der Presse kaum ein kritisches Wort mehr zu hören ist. Wenn es nur oft genug und von allen im gleichen Wortlaut ausgesprochen wird, glaubt es jedeR JournalistIn und jedeR BürgerIn: »Ein Atomausstieg unter 30 Jahren Gesamtlaufzeit plus Übergangsfrist ist nicht entschädigungsfrei möglich.« Diese Ansichtssache ist dank unseres geschlossenen Auftretens inzwischen zur allgemein anerkannten Tatsachenbehauptung geworden, an der sich im Zweifelsfall auch VerfassungsrichterInnen orientieren müßten.
Nicht hinzunehmen ist es, daß einzelne Parteimitglieder ihre persönliche Biografie und ihre antiquierten politischen Forderungen über die Sache der Partei stellen:
Auf den Schienen sitzend vom Wasserwerfer abgespritzt zu werden oder schulterklopfend Verhandlungen mit den Atombossen zu führen, beides sind nur zwei verschiedene Wege des Atomausstieges. Selbst wenn es im ersten Fall garantiert schneller geht, steht auch im zweiten Fall fest: Die jüngere Generation wird das Abschalten des letzten kommerziellen Reaktors in der BRD noch miterleben - vorausgesetzt, es gibt vorher keinen GAU.
Zur Strukturreform:
Die Grünen wurden als Anti-Parteien-Partei gegründet. Viele von Euch hatten damals keine Lust mehr auf die straffe Organisation der K-Gruppen. Heute stehen wir aber vor der Aufgabe, Personen zu finden, die die parlamentarische Ebene mit derjenigen der Parteiführung vernetzen. Die Gefahr einer Doppel-K-Führung (Künast und Kuhn) ist für unsere Partei nicht gegeben, auch nach der Strukturreform weist die Partei einen zentralen Unterschied zu den K-Gruppen auf: Handlungsanweisungen an den neuen Bundesvorstand werden nicht aus Moskau kommen, sondern vom Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland. Dieser hat bereits sein Einverständnis zu den beiden K-KandidatInnen signalisiert hat.
Neben einer besseren Vermittlung der Regierungspolitik in die Partei hinein ist die Bezahlung der BundesvorstandssprecherInnen durch die jeweiligen Parlamente - in denen sie dann hoffentlich kaum sitzen - ein großer Vorteil. Was in anderen Parteien schon längst üblich ist, kann auch unseren Parteihaushalt entlasten. Für die Wählerinnen und Wähler ist kein Unterschied zwischen Regierungs- und Parteipolitik sichtbar, daher ist dieses Verhalten auch kein Betrug.
Es ist unseriös, die Parteispendenaffären der großen Volksparteien als Argument gegen unsere eigene Strukturreform anzuführen:
1. Helmut Kohl war Vorsitzender der CDU und nicht der Grünen.
2. Bis in die Konzernspitzen hinein ist bekannt, daß wir gratis für sie Politik machen.
Ein weiterer, etwas sensibler Punkt ist derjenige, der Dir auch schon im Brief des Bundesvorstandes und anderer Führungspersönlichkeiten vom 3.3.2000 aufgezeigt wurde. Die Trennung von Amt und Mandat »schwächt die Führung der Bundespartei, weil sie zu viele fähige BewerberInnen mit parlamentarischer Erfahrung ausschließt
«. Andersherum ausgedrückt soll das heißen: Die bisherigen BundessprecherInnen waren unfähig und schwächten unsere Partei.
Unsere Partei ist in den letzten Jahren oft so wie ein uneingespieltes Orchester aufgetreten, wo der Dirigent nicht wirklich den Ton angibt. Wer einen Auftritt der Originalversion der »Fischer-Chöre« erlebt hat, weiß: Disharmonien und falsche Töne haben keine Chance, wenn sich alle nach dem Taktstock richten.
In diesem Sinne kann, muß und wird der Parteitag in Karlsruhe eine überfällige Richtungsänderung unserer ehemaligen Anti-Parteien-Partei einleiten.
»Basisdemokratisch, ökologisch, gewaltfrei.« Dieses Gründungsmotto unserer Partei sollten wir in Form eines langbärtigen, sandalen- und jutetaschentragenden, strickenden 38jährigen Mannes mit Peace-Zeichen im Haus der Geschichte endlagern.
Laßt uns gemeinsam den strukturellen Ballast der Vergangenheit abwerfen!
Mit freundlichen Grüßen
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