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10.11.2000

An die
Mitglieder der Partei
Bündnis 90/Die Grünen
p.A. Kreisverbände
Situation der Fraktion im Europäischen Parlament

Liebe Freundinnen und Freunde,

der Presse konntet Ihr in den vergangenen Wochen Meldungen über Streit in der Fraktion im Europäischen Parlament entnehmen.

Zu den von mir vertretenen und aus dem Grundsatzprogramm der Grünen abgeleiteten Positionen gibt es in der Gesellschaft und in der Partei verschiedene Meinungen - und das ist auch gut so.

Die Aussagen mancher ParteifreundInnen, allen voran der Abgeordneten Rühle, reichen von äußerst fragwürdigen politischen Einschätzungen bis hin zu sehr kreativen Äußerungen, deren Adressatin eigentlich nicht die Öffentlichkeit, sondern das Europäische Patentamt in München (Abt. Neuerfindungen) sein sollte.

Im Mittelpunkt der durch den Austritt der ehemaligen Partei- und Fraktionsmitglieder Ozan Ceyhun und Wolfgang Kreissl-Dörfler dynamisierten Diskussion standen und stehen allerdings nicht politische, sondern persönliche Angriffe der Abgeordneten Heide Rühle auf mich und andere.
Welches Bild sie über sich und die Europafraktion in den Medien abgibt, will ich Euch in diesem Brief anhand von zahlreichen Zitaten darstellen.

Der Grundtenor der Äußerungen lautet, daß ich mit meiner politischen Arbeit der Partei und Fraktion schaden würde, eine Nervensäge sei, eine Sozialtherapie nötig hätte und mich mit 22 Jahren in der Spätpubertät befände, gleichzeitig aber altkluge und altgrüne Positionen vertrete.

Das Mobbing richtet sich zwar vor allem gegen mich persönlich, letztendlich werden jedoch auch andere Abgeordnete, die Gesamtfraktion und -partei durch die 52jährige Heide Rühle geschädigt.

Mobbing definiere ich so, daß hinter dem Rücken einer Zielperson und ohne direkte Kommunikation herabsetzende Äußerungen vorgenommen werden.

Im Gegensatz zu meiner Kollegin habe ich bisher den innerparteilichen und innerfraktionellen Dialog gesucht. Ein Schreiben an den Fraktionsvorstand der EP-Fraktion, in dem ich am 14.09.2000 - über einen Monat vor dem ersten Austritt - um eine Lösung des Problems mit Rühle bat, wurde bis heute nicht beantwortet. Auch mein Schreiben an Renate Künast vom 19.10.2000 wurde von dieser trotz mehrfacher Erinnerung nicht beantwortet.

Heide Rühle, die selbst noch nie einem Parlament angehört hat, kritisiert in einem Interview im Freitag vom 03.11.2000: »Unsere britischen Fraktionskollegen haben bisher noch gar keine parlamentarische Erfahrung gemacht. Die schwedischen Grünen sind noch heute EU-Gegner.« Zumindest für die eine der beiden britischen Grünen gilt das nicht: Caroline Lucaus war die erste grüne »County Council« in Großbritannien, und zwar in Oxfordshire von 1993-1997.

Die Berliner Morgenpost (25.10.2000) schreibt: »Der katastrophale Zustand der deutschen Gruppe wird laut Rühle freilich von einem noch desolateren der gesamten 48-köpfigen Fraktion übertroffen.« Ähnlich greifen viele anderen Medien ihre Kamikaze-Äußerungen auf: »Die Straßburger Fraktion ist doch noch desolater als die deutsche Gruppe…«, »Wir müssen viel professioneller werden…« (Stuttgarter Zeitung v. 26.10.2000). »Ein guter Teil der EU-Grünen sei weltfremd und suche in Europa weiterhin das ´Gute, Schöne, Wahre´.« zitiert die Köllnische Rundschau vom 27.10.2000 die Abgeordnete Rühle, die nicht weltfremd sein möchte und offensichtlich das Schlechte, Häßliche und Falsche verfolgt.

In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FASZ) vom 29.10.2000 äußert Rühle, die Mitglied im Fraktionsvorstand ist, ihre Selbstkritik: »Es stimmt, daß man im vergangenen Jahr von uns nicht genügend gehört hat.«

Wer im elektronischen Pressearchiv des Deutschen Bundestages (und wohl auch in den Pressearchiven einzelner Medien im Internet) nach “Heide + Rühle” forscht, findet fast nur Beiträge, in denen sie mich, sich selbst und ihre eigene Fraktion unpolitisch kritisiert.

Sie definiert z.B. in der FASZ v. 29.10.2000 mich als Problem. »Innerhalb der deutschen Gruppe schießen einzelne Personen quer, vor allem Ilka Schröder. Seit sie im Europaparlament ist, hat sie ihre Öffentlichkeitsarbeit in erster Linie dazu benutzt, einzelne Grüne oder die Partei in Deutschland anzuschießen.«

Der Vollständigkeit halber müßte man bei einer 15-Monats-Bilanz der grünen MdEPs berücksichtigen, was man z.B. von mir gehört hat: Freikauf eines Atomkraftgegners aus dem Knast, Engagement bei den WTO-Protesten in Seattle, Anti-Expo-Arbeit und mein Einsatz gegen das Spionagesystem »Echelon«, der mir immerhin auch in der strengen Beurteilung des Spiegel (47/00) »Respekt einbrachte«. Meine politischen Forderungen, u.a. die finanzielle Unterstützung der Fluchthilfe an den EU-Außengrenzen, die Entsendung einer OSZE-Mission nach Deutschland zur Beobachtung der staatlichen und nichtstaatlichen Verfolgung von MigrantInnen, Gedanken über das Bundestagsfraktionskonzept einer Interventionsarmee oder Maßnahmen gegen das Bundeswehrgelöbnis in Berlin fanden Eingang in Medien und politische Diskussionen. Auch andere in Deutschland gewählte MdEPs beschränken sich nicht auf innerparteiliche Auseinandersetzungen: Die Umwelt- und Lebensmittelsicherheitsexpertin Hiltrud Breyer macht gute Politik, Elisabeth Schroedter hat sich mit ihrer fachlichen Arbeit zur EU-Osterweiterung Anerkennung erworben.


Wer ist ChefIn der deutschen Grünen im EP

Offensichtlich ohne heftigen Protest wird Rühle in den Medien als »Vorsitzende der Delegation der deutschen Grünen im EP« (Agence Europe 20.10.2000), »Chefin der deutschen Grünen im EP« (Reuters 24.10.2000) oder »Vorsitzende der deutschen Grünen im Europa-Parlament« (Berliner Zeitung v. 24.10.2000) beschrieben.
Den Chefposten der deutschen MdEPs beansprucht aber auch der bündnisgrüne Europaabgeordnete Graefe zu Baringdorf. Von der FAZ (26.10.2000) wird er als »Koordinator der deutschen Grünen in Straßburg« bezeichnet. Er selbst kritisiert in seiner mit »Schmerzgrenze erreicht« überschriebenen Presseerklärung vom 24.10.2000 das zahnlose Vorgehen des Grünen-Parteirates (dessen Mitglied Rühle ist) gegen Ilka Schröder und fordert Führungstreue: »Einige der Mitglieder der deutschen Gruppe sind so borniert, daß sie noch nicht einmal die demokratische Wahl des Sprechers anerkennen.«

Wer von den beiden rechten Grünen den Machtkampf gewinnt, ist noch nicht entschieden. Daß die »ultralinke« Ilka Schröder schuld ist, allerdings schon. Denn sie könnte daran schuld sein, daß es mangels Masse bald nix mehr zu koordinieren oder zu bevorsitzen gibt, denn »Ilka Schröder und die Grünen, das wird noch eine Weile halten, bis der letzte Grüne im Parlament die Fronten gewechselt hat«. (Die Welt 26.10.2000).

Greaefe zu Baringdorf ist der einzige Abgeordnete, der in einer Fraktions-Abstimmung am 25.10.2000 nicht für folgenden Text gestimmt hat: »Die Fraktionsmitglieder bekräftigen ihre Verpflichtung zu größter Zurückhaltung gegenüber anderen Fraktionsmitgliedern im Falle von Konflikten (und verzichten ebenfalls auf die Involvierung der Presse in derartigen Fällen)«. Dafür: 34, Dagegen: 0, Enthaltung: Graefe zu Baringdorf.

Die Idee zur Lösung des Problems der formalen Führungsrolle der deutschen Grünen bietet Rühle übrigens selbst an: »Es gibt keine deutsche Delegation im Europaparlament. Eben weil Frau Schröder Mitglied dieser Delegation wäre, gab es von Anfang an keine deutsche Delegation, dazu waren von Anfang an unsere politischen Differenzen viel zu groß.« (FASZ 29.10.2000).

Wie wurde in Erfurt eigentlich die Liste aufgestellt?

Schon wenige Tage nach der Aufstellung der Liste in Erfurt äußerte sich Heide Rühle im Interview der Süddeutschen Zeitung v. 09.03.1999 kritisch über die Aufstellung der KandidatInnenliste. »Das ist sehr bedauerlich.« Damit hatte sie offensichtlich nicht Ozan Ceyhun gemeint. Ceyhun war später im EP ihr engster Kooperationspartner, mit ihm hat sie ein gemeinsames PR-Blatt herausgegeben und ein Positionspapier zur Migrationspolitik verfaßt hat, das an dem Tag, an dem Ceyhun austrat, in der Fraktion diskutiert werden sollte.

Über den Erfurter Parteitag mit der Listenaufstellung zum Europäischen Parlament werden schon jetzt Legenden gebildet. Fakt ist und bleibt, daß sich die Strömungen nicht auf eine gemeinsame Liste einigen konnten, bzw. daß deren Vorstellungen von der Basis nicht auf den Stimmblock geschrieben wurden. Ich bin - im Gegensatz zu anderen - ohne ein Votum einer Strömung angetreten. Hier hat also der Spiegel 45/2000 recht, es gab »unversehens einen demokratischen Wettbewerb um die besten Listenplätze«. Die FAZ macht dagegen »Proporzdenken und die grünen Bundesdelegiertenkonferenzen eigene Logik« für meine Aufstellung verantwortlich, die Berliner Zeitung (25.10.2000) schreibt meiner Person eine »Dreifachquote« zu: »jung, links, Osten« (Strömung s.o., weder West-Berlin, noch Oldenburg liegen im Osten).

Streitkultur

Bei der Bereitschaft, politische Konflikte politisch zu diskutieren, ist Heide Rühle sehr wechselhaft, mehrheitlich bechränkt sie sich auf eine Verlagerung von politischen Konflikten auf die Ebene parlamentarischer Erfahrung, des Lebensalters und der Frage von privater und öffentlicher Politikfinanzierung.

AP meldet am 25.10.2000: »Rühle forderte, dass man die Konflikte mit Schröder konsequent austrage: ‘Das ist keine Sozialtherapie hier, sondern eine politische Auseinandersetzung.’« Wenige Tage später spricht sie in einem Interview mit der FASZ (29.10.2000) aber nicht mehr über Politik - obwohl sie danach gefragt wird. Auf die Frage nach der Auflösung der deutschen Delegation im EP artikuliert sie ihre Unzufriedenheit mit der Tatsache, daß ich Steuergelder für mein Infomagazin »Denkpause« verwende. Auch auf die nächste Frage nach den Ursachen des schlechten Klimas in der Fraktion fällt ihr nichts anderes ein, als daß ich Geld für die Öffentlichkeitsarbeit falsch einsetze. Eine weitere Frage nach Selbstdisziplinierung und Zensur beantwortet sie ebenfalls mit angeblich falsch eingesetztem Geld für meine Öffentlichkeitsarbeit.

Letztendlich setzt sich Heide Rühle nicht mit den von mir vertretenen und aus dem Grundsatzprogramm der Partei abgeleiteten politischen Forderungen auseinander.

Öffentliche Politikfinanzierung versus Public-private-Partnership

Richtig ist an Rühles Aussagen, daß meine komplette Tätigkeit - wie auch die Spende, die der Bundesvorstand monatlich von meinem Konto einzieht - vom Staat finanziert wird. Das Geld stammt größtenteils aus Steuereinnahmen.
Abgeordnete erhalten z.B. für ihre Lebenshaltungskosten zu versteuernde Diäten und für ihre politische Arbeit weitere steuerfreie Mittel. Ich verfüge über kein Einkommen neben meiner Abgeordnetentätigkeit und über kein Vermögen, aus dem ich meine politische Arbeit finanzieren kann. Es wäre meiner Ansicht nach falsch, wenn nur Reiche erfolgreich Politik machen könnten. Ich lehne es aber ebenso ab, Geld von Interessenverbänden, Unternehmen und Privatpersonen entgegenzunehmen, da solche Spenden und Sponsorings die unabhängige Willensbildung der Abgeordneten beeinträchtigen können. Bei einer Gesamtwürdigung meiner politischen Tätigkeit würden viele Sponsoren von einer Spende Abstand nehmen. Ich frage bei der Entwicklung meiner politischen Positionen zunächst danach, was für Menschen gut ist. Wirtschaft betrachte ich nicht als Selbstzweck. Nur ein einziges politisches Projekt, nämlich der Einsatz gegen das Spionagesystem »Echelon«, qualifiziert mich für eine Berücksichtigung beim Ausgabeposten »nützlichen Aufwendungen« der großen Unternehmen. Ich würde angebotene Spenden für mich oder für meine Öffentlichkeitsarbeit ablehnen bzw. an den Bundesschatzmeister der Partei verweisen (ohne aber dafür Anweisungen im Sinne der SpenderInnen entgegenzunehmen). Eine Ermäßigung meiner Parteispenden (wie laut FAZ v. 8.1.2000 in einem anderen Fall gewährt) würde ich für das Einwerben von Unternehmensspenden nicht annehmen.
Ich gehe davon aus, daß meine Politikfinanzierung verfassungsgemäß ist und wundere mich, wie Heide Rühle ihre innerparteilichen Auseinandersetzungen finanziert, wenn nicht mit Staatsknete.

Rühle behauptet in der FASZ vom 29.10.2000, die Fraktion »hat bestätigt, daß das Amt der Schatzmeisterin durchaus politisch ist und dafür sorgen muß, daß Personen in ihrem Ansehen nicht beschädigt werden«. In anderen Presseorganen wurde sogar der Eindruck erweckt, Rühle bekäme »grünes Licht für ihren Beschluss, der heftig umstrittenen Berliner Fraktionskollegin Ilka Schröder jährliche Zuschüsse für Öffentlichkeitsarbeit in Höhe von 35.000 DM zu streichen« (taz 27.10.2000).
Richtig ist das Gegenteil: Die Fraktion hat (einstimmig mit meiner eigenen Stimme) beschlossen, daß Heide Rühle bei »Problemen« nicht allein entscheidungsbefugt ist. Nach ihrer Rücktrittsankündigung wurde sie in der Fraktionssitzung am 25.10.2000 gebeten, ihr Schatzmeisteramt fortzuführen. Der Beschluss lautet wörtlich: »Die Fraktion spricht Schatzmeisterin H. Rühle ihr Vertrauen aus mit allen sich daraus ergebenden Pflichten und Verantwortungen. Im Falle von Problemen ist der Vorstand Ansprechpartner.« (Abstimmung 34:0:0).

Der Übertritt von Ozan Ceyhun - Politische Differenzen

Ich habe seit langem die innen- und migrationspolitischen Forderungen von Ozan Ceyhun politisch angegriffen. Auch auf meine Initiative hin zog der Fraktionsvorsitzende der Grünen/EFA Paul Lannoye die grüne Unterschrift unter eine Resolution zu den Ereignissen in Dover zurück. Die nach dem Tod der Flüchtlinge in Dover vorgelegte Beschlußvorlage trat für eine stärkere polizeiliche Bekämpfung der FluchthelferInnen an den europäischen Außengrenzen ein und wurde von Ozan Ceyhun ohne Konsultation der Fraktion für die Grünen unterzeichnet.
Fluchtbewegungen von Menschen nach Europa wird es immer geben. Es ist inhuman, die Grenzen zwar für Geld und nützliche Arbeitskräfte zu öffnen, für Menschen in Not aber zu schließen. Je heftiger die Grenzkontrollen sind, desto drastischer und lebensgefährlicher müssen die Verstecke für Menschen sein, die unerkannt über die Grenze kommen wollen. Der Grund für die Benutzung von Kühllastern durch FluchthelferInnen ist nicht der Wille der FluchthelferInnen, Flüchtlinge zu töten, sondern die Unmöglichkeit wegen der schon heute sehr strengen Grenzkontrollen einen Transport im Zug, Bus oder Flugzeug durchzuführen. Über den besten Weg der Abschaffung des Grenzregimes bin ich gerne bereit zu diskutieren. Gerade für WirtschaftspolitikerInnen ist das Wort »Subvention« ein Reizwort. Mit einer Liberalisierung der (dann ehemals sog. illegalen) Einwanderung - d.h. das Verbot von Identitätskontrolle und Einreiseverbot an den EU-Grenzen - wäre das menschenrechtliche Ziel ebenfalls erreicht. Es geht mir nicht um die Arbeitsplätze in der Fluchthilfe.

Kommentare nach Ceyhuns Austritt

Viele andere sind mit mir der Meinung, daß Ozan Ceyhun eher die Positionen der europäischen Christ- und SozialdemokratInnen teilt - wenn er diese nicht sogar rechts überholt.

Die Rüsselsheimer Grünen begleiteten den Austritt ihres Mitglieds Ceyhun laut Darmstädter Echo v. 19.10.2000 mit sarkastischen Kommentaren: »Es sei Ceyhun gewesen, der zu den entschiedensten Verfechtern einer Koalition zwischen den Grünen und der CDU … gezählt habe. Damals habe er auch erklärt, sollte es zu einem Ende der Zusammenarbeit mit der CDU kommen, werde er sich mit aller Macht einer möglichen Kooperation mit der ‘völlig verrotteten’ SPD widersetzen. Diese opportunistische Haltung sei kennzeichnend für den Politikstil Ceyhuns…«.

Wie bei der Basis wird auch auf den Fluren des Europäischen Parlaments seit der Wahl im Sommer 1999 über einen Fraktionswechsel Ceyhuns spekuliert. Für politische Menschen in Brüssel und für seinen Kreisverband ist seine Ideologie nie ein Geheimnis gewesen. In seiner Austritts-Pressemitteilung vom 17.10.2000 gibt Ceyhun an, daß er mit der PSE »seit einem Jahr inhaltlich hervorragend zusammenarbeiten konnte«. Nur Renate Künast (»unverständlich«), der hessische Landesvorstandssprecher Dr. Hubert Kleinert (»überraschend und unangekündigt«) und der Bundesgeschäftsführer Reinhard Bütikofer (»Überraschung und Unverständnis«) gaben zu Protokoll, davon nichts mitbekommen zu haben.

Zum Austritt Ceyhuns ist mir keine Äußerung Rühles bekannt (sie äußerte sich meines Wissens nur mehrmals täglich zu meiner Person). Ihr politischer Spürsinn was Parteiwechsel angeht scheint nicht sehr hoch zu sein, wie auch die taz (25.10.2000) nach dem zweiten Austritt erkannt hat: »Noch am Samstag hatte Rühle Berichte zurückgewiesen, die über Fluchtgedanken Kreissl-Dörflers spekulierten.«

Allen, die beim nächsten Übertritt meinen, er sei »unerwartet« oder »unbegründet«, kann die Lektüre der FAZ vom 26.10.2000 empfohlen werden: »In Straßburg hielten sich am Mittwoch weiterhin Gerüchte, daß unter den verbliebenen 46 Abgeordneten der Grünen-Fraktion, darunter noch fünf von einst sieben deutschen Parlamentariern, weitere mit dem Gedanken an einen Wechsel spielen. Das gilt nicht für die 22 Jahre alte Berliner Abgeordnete Schröder, die nicht gehen will.… Graefe zu Baringdorf, seit 1984 für die Grünen in Straßburg und Vorsitzender des Agrarausschusses, wird bei der Stange bleiben. ´Ich gehe nicht zur SPD.`« Bereits in der FAZ vom 19.09.2000 stellte Rühle zur Verbundenheit mit der eigenen Fraktion und Partei fest, daß ihr »deutsche Sozialdemokraten und Christliche Demokraten zum Teil sogar näher stünden als manches Mitglied der eigenen Fraktion«.

Wenn Ceyhun in der Stuttgarter Zeitung v. 26.10.2000 berichtet: »Die schärfste Kritik an meiner Arbeit im Europaparlament kam nicht vom politischen Gegner, sondern von meinen eigenen Parteifreunden«, dann kann das eigentlich nur bedeuten, daß er schon länger die Arbeit der politischen Gegner macht. Und Rühle irrt nur ein wenig, wenn sie in der TAZ vom 25.10.2000 zum Fall Ceyhun sagt: »Wenn wir uns fragen, wie das passieren konnte, müssen wir uns alle an die eigene Nase fassen.«

Ob Ceyhun mit dem Fraktionswechsel von den Grünen zu den SozialdemokratInnen seine endgültige politische Heimat erreicht hat, ist heute kaum abzusehen. Sein in diesen Tagen vorgelegter Entwurf für einen parlamentarischen Bericht über die »Bekämpfung der Beihilfe zur illegalen Einreise und zum unerlaubten Aufenthalt« stellt die SozialdemokratInnen vor Probleme, da sogar ChristdemokratInnen (wie der Abgeordnete Hartmut Nassauer im Ausschuss für die Freiheiten und Rechte der Bürger, Justiz und innere Angelegenheiten) geäußert haben, daß sie mit einer Zustimmung Probleme haben, wenn Ausländer pauschal verdächtigt werden. Es bleibt abzuwarten, ob die SozialdemokratInnen ihrem neuen Fraktionsmitglied den Rücken stärken und damit die ChristdemokratInnen rechts überholen, oder ob Ceyhun seine erste Niederlage als Rechtsaußen der neuen Fraktion einstecken muß.

Der Parteiausschluß und andere Sanktionen

Nach dem Ceyhun-Austritt kamen erstmals auch von der Parteivorsitzenden Renate Künast verbale Attacken gegen mich: »Künast bezeichnete zugleich die Äußerungen der 22-jährigen Schröder als ´unsäglich und unverschämt´. Wenn sie jetzt erkläre, sie freue sich über Ceyhuns Übertritt, verstosse das gegen jeden Anstand.« (dpa 18.10.2000)

Ich habe mit Renate Künast seit dem 19.10.2000 mehrfach den politischen Dialog gesucht und um Stellungnahme gebeten. Sie hat leider nicht reagiert. Stattdessen kündigt sie öffentlich an, Möglichkeiten von einer Rüge bis hin zu einem Parteiausschluß zu prüfen (ADN 23.10.2000). Wie die meisten anderen Aussagen und geplanten Maßnahmen gegen mich habe ich hiervon auch nur über die Medien erfahren. Als engagierte Rechtsanwältin hätte sie diese Art der Zustellung einer Anklageschrift sicher abgelehnt.

Über meinen Parteiausschluß wird seit langem nachgedacht, wie den Medien zu entnehmen ist. Zuerst war es meine Meinung zur Grünen-Kampagne für ein Abo von »Ökostrom«, die übrigens direkt nach der öffentlichen Vorstellung beendet wurde. Meine Position ärgerte niedersächsische Parteimitglieder Anfang Juni 2000 so heftig, daß sie sich über ein Parteiausschlußverfahren gegen mich den Kopf zerbrachen. Die Woche vom 27.10.2000 weiß zu berichten, daß man schon vor einem halben Jahr im Grünen-Bundesvorstand in Berlin über einen Parteiausschluß nachdachte. »Wegen der befürchteten unangenehmen Nebenwirkungen in der Öffentlichkeit sah man jedoch davon ab.«

Vor ziemlich genau drei Monaten, am 6. August 2000, ist dann das vom hessischen Grünen-Landeschef Dr. Hubert Kleinert über die Medien gestellte Ultimatum ohne Konsequenzen abgelaufen. (Zumindest ohne Konsequenzen für mich.) Jetzt wird mindestens zum dritten Mal über einen Parteiausschluß nachgedacht. Meine Prognose ist, daß auch diesmal die Sache im Sande verläuft, weil sich niemand in einen politischen Meinungskampf begeben möchte.

Heide Rühle hat sich auch an der Diskussion um Sanktionen gegen mich rege beteiligt. Im ddp-Interview vom 23.10.2000 kündigte sie »einen Antrag in der Fraktion an, mit dem Schröder deutlich gemacht werden solle, ‘dass sie die Grenzen des für uns akzeptablen Verhaltens überschritten hat’«. Diese Ankündigung blieb genau so folgenlos, wie die vom 18.10.00 (Reuters): »Wir werden ihr die Grenzen ziehen und ihr mindestens die gelbe Karte zeigen.«

Ihre guten Ratschläge an die EP-Fraktion werden dort genausowenig befolgt wie die an meinen Berliner Landesverband: »Den Berliner Landesverband, der für Ilka Schröder zuständig ist, forderte Rühle auf, endlich ein Parteiausschlussverfahren gegen die Abgeordnete einzuleiten.« (SZ v. 26.10.2000).

Statt die angekündigten Anträge selbst einzubringen und politisch zu begründen, mobbt sie lieber weiter in der Öffentlichkeit. Die Ostthüringer Zeitung berichtet am 24.10.2000 über Rühles Wunschträume: »Und die Tendenz ist weiter abnehmend. Denn es ist längst kein Geheimnis mehr, dass Rühle es gerne sähe, wenn die als Nervensäge der Europa-Grünen titulierte Ilka Schröder die Partei verließe. Die 22jährige, einst jüngste Europa-Abgeordnete, will aber nicht weg.« Auch die Nachrichtenagentur AP berichtet am 25.10.2000, ich sei laut Rühle »leider« Mitglied der Fraktion.

Neue Listenaufstellungsverfahren zur Europawahl

Die Woche vom 27.10.2000 berichtet über Heide Rühles Pläne zur Listenaufstellung: »’Was wir brauchen’ sagt Rühle, ‘sind Vorschlagslisten, die der Parteivorstand ausarbeitet.’« Eine Mitarbeiterin der Abgeordneten Rühle setzt sich als Privatperson in einem »Offenen Brief« für eine langzeitig vorbereitete Liste ein. »Das offene, transparente Werben um ein Mandat, nicht erst zwei Monate vor Listenaufstellungen, birgt weitere Chancen.«
Ihre eigene Bewerbung um einen Listenplatz lag etwa 48 Stunden vor Beginn des Parteitages vor. Die Basis hatte keine Möglichkeit, in den Kreisverbänden über ihre Kandidatur zu diskutieren. Die Delegierten mußten aus dem hohlen Bauch entscheiden. Meine Listenplatzbewerbung dagegen wurde an die Kreisverbände verschickt, eine Meinungsbildung war möglich. Ich habe mich in zahlreichen Parteigliederungen persönlich vorgestellt. Immerhin ist Rühle selbstkritisch: »Es hat sich gezeigt, dass bei den Europawahlen die Listenaufstellung aus dem Bauch, die Nominierung auf Grund einer einzigen Rede, ein schwerer Fehler war.« (Stuttgarter Zeitung 26.10.2000).

Zu ihrer Entlastung muß aber gesagt werden, daß sie nicht aus eigener Motivation im EP sitzt: »Heide Rühle, einst Bundesgeschäftsführerin in Bonn, ließ sich 1999 zur Spitzenkandidatur für den Europawahlkampf breit schlagen - und fragte sich schon bald, ob sie den Job wirklich machen solle, nachdem sie sah, wie die weitere Nominierung von Bewerbern auf der Bundesliste vonstatten ging« (Mannheimer Morgen 25.10.2000).

Meiner Meinung nach ist es besser, wenn die Basis weiterhin die Liste zum Europäischen Parlament aufstellt. Die ausführlichere Berichterstattung über Europathemen in den Medien und auch das Internet machen es den BasisvertreterInnen möglich, kompetent über die Eignung derjenigen KandidatInnen zu entscheiden, die schon im EP waren. Politische Verdienste und Erfahrungen in der Europapolitik lassen sich vielerorts sammeln, z.B. in der Bundesarbeitsgemeinschaft Europa der Partei.

Konsequenzen

Ich bin in den letzten Wochen oft von Medien gefragt worden, ob ich Heide Rühle für eine gute Politikerin halte und ob man sie aus der Partei ausschließen sollte. Zu diesen Fragen habe ich mich nicht geäußert, denn das öffentliche Bild der Grünen im EP hätte sich bei gegenseitigen Ausschlußforderungen sicher noch einmal verschlechtert. Ich habe lediglich an Rühle appelliert, eigene Konsequenzen aus ihren Problemen in der Fraktion zu ziehen. Ich stelle keine Anträge auf Parteiausschluß und möchte auch keinem Kreis- oder Landesverband vorschreiben, daß er gegen »seine« Europaabgeordnete einen Auschluß einleitet.

Ich möchte Euch lediglich Informationen zusammenstellen, die Euch eine Beurteilung der Situation ermöglichen.

… und wie es weitergeht, erfahrt Ihr am besten aus der Zeitung, denn - wie aus den zahlreichen Zitaten dieses Briefes deutlich wird - »Heide Rühle hat die Pressearbeit übernommen« (Hamburger Morgenpost 21.10.2000).



Mit freundlichen Grüßen

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